Das Recht auf Bildung wird in Artikel 24 der UN-Behindertenrechtskonvention festgeschrieben. Bildung ist die Basis von allem, was Menschen zu selbstbestimmten Entscheidungen befähigt.
Erziehung und Bildung geben Menschen die Möglichkeit, sich geistig, moralisch, sozial und kreativ zu entwickeln. Durch die Auseinandersetzung mit der ökologischen, ökonomischen, kulturellen und sozialen Welt erhalten Menschen die Chance, ihr Wissen zu erweitern und eigene Standpunkte zu vertreten. Sich zu bilden, ist ein lebenslanger Prozess. Neben der persönlichen Reifung ist Bildung die Grundlage für den Eintritt ins Erwerbsleben. Der gemeinsame Besuch der Kindertagesstätten gehört ebenso wie der gemeinsame Besuch von Schulen von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderungen zur chancengerechten Teilhabe an Bildungsmöglichkeiten. So wie im Alltag die Begegnungen einer vielfältigen Gesellschaft selbstverständlich sind, besteht ein Recht auf gleichberechtigten Zugang zu den allgemeinen Bildungsangeboten. Die Herausforderung besteht aktuell darin, die bestehenden Angebote weiter zu entwickeln, um den gemeinsamen Kindertagesstätten- und Schulbesuch ebenso wie die Nutzung von allgemeinen Weiterbildungsangebote zu gewährleisten.
Zu den bisherigen Entwicklungen finden Sie Informationen auf der Seite des Bildungsministeriums.
Besonders darf ich Sie auf das Grundsatzpapier der Beauftragten des Bundes und der Länder und den Beschluss des Landesteilhabebeirates zum Thema „Schulische Inklusion“ sowie den Aufruf für ein inklusives Schulsystem hinweisen.
Aufruf für ein inklusives Schulsystem in Rheinland-Pfalz - Stillstand beenden - Menschenrecht auf ein inklusives Schulsystem umsetzen
Präambel:
Rheinland-Pfalz hat im Jahr 2014 mit der Novellierung des Schulgesetzes die Weichen für ein inklusives Schulsystem gestellt. Wir müssen feststellen, dass sieben Jahre nach Inkrafttreten des novellierten Schulgesetzes und 12 Jahre seit Gültigkeit der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland der Zug für den gemeinsamen Unterricht ins Stocken geraten ist. Die Anzahl der Förderschüler*innen steigt an. Der Ausbau der Schwerpunktschulen ist gebremst und die Gymnasien entziehen sich weitgehend ihrer Aufgabe des inklusiven Unterrichts. Die Transformation von Förderschulen und Schwerpunktschulen in ein wohnortnahes und inklusives Schulangebot gleichberechtigt für Schüler*innen mit und ohne Behinderungen liegt in weiter Ferne. Eltern von Schüler*innen mit Behinderungen stehen weiterhin vor erheblichen bürokratischen Hürden, um die notwendige Unterstützung und Assistenz für ihre Kinder mit Behinderungen zu erhalten.
Diese Einschätzung wird aus dem Erfahrungsaustausch „Wie gelingt schulische Inklusion in Rheinland-Pfalz?“ vom September 2021 und aus den Ergebnissen des Ländervergleichs zur Umsetzung schulischer Inklusion des Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB-Studie von Steinmetz et al., 2021) gestärkt.
Die mangelnde Transformation zu einem inklusiven Schulangebot wird in dem Ländervergleich kritisiert.
Die Bildungspolitik in Rheinland-Pfalz ist auf allen Ebenen nach den Allgemeinen Bemerkungen des UN-Fachausschuss (2016) auszurichten: „Inklusion beinhaltet den Prozess einer systemischen Reform, die einen Wandel und Veränderungen in Bezug auf den Inhalt, die Lehrmethoden, Ansätze, Strukturen und Strategien im Bildungsbereich verkörpert, um Barrieren mit dem Ziel zu überwinden, allen Lernenden einer entsprechenden Altersgruppe eine auf Chancengleichheit und Teilhabe beruhende Lernerfahrung und Umgebung zuteilwerden zu lassen, die ihren Möglichkeiten und Vorlieben am besten entspricht.“
Obwohl Rheinland-Pfalz eine reichhaltige und jahrzehntelange Erfahrung mit inklusivem Unterricht und inklusiv arbeitenden Schulen hat, ist der Anspruch, ein inklusives Schulsystem zu gewährleisten, nicht verwirklicht. Um diesem Auftrag nachzukommen, sind für uns, dem Organisationteam des Erfahrungsaustauschs und den Unterstützer*innen dieses Aufrufs, folgende Schritte erforderlich:
1. Schwerpunktschulen sind nur ein Übergang für ein inklusives Schulsystem
Der Auftrag für Inklusion gilt für alle Schulen. Ein zieldifferenter, offener und an den individuellen Lernfortschritten ausgerichteter Unterricht ist Grundlage. Inklusiver Unterricht muss auf ein hohes Qualitätsniveau gebracht werden und ist letztlich eine Notwendigkeit für alle Schulen; selbst in einem gegliederten Schulsystem sind homogene Lerngruppen eine Illusion.
Es braucht ein flächendeckendes und wohnortnahes Angebot an inklusiv arbeitenden Schulen mit einer angemessenen personellen und sächlichen Mittelausstattung, die auf eine inklusive Beschulung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen auch mit umfänglichen Förderbedarfen vorbereitet sind. Daraus ergibt sich, dass jede Schule ein inklusives Schulentwicklungskonzept entwickelt. Damit die Schwerpunktschule ein Übergang zu einem inklusiven Schulsystem sein kann, müssen jetzt schon alle Schulen beginnen, inklusiv zu arbeiten.
2. Mehr Ressourcen in ein inklusives Schulsystem geben
Schulen brauchen eine bedarfsgerechte Unterstützung in Form von qualifizierten Lehrkräften und geeignetem pädagogischen Personal. Für die Ressourcenzuweisung sind die Standortbedingungen von Schulen zu berücksichtigen. Das ist u.a. über sozialinduzierte Lehrkräftezuweisung zu realisieren. An den Schulen muss eine Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams so unterstützt werden, dass hierfür angemessene Ressourcen, wie z.B. eine gemeinsame Besprechungsstunde, zur Verfügung gestellt werden. Die Schulen haben einen Anspruch auf Beratung, die sowohl bedarfsbezogen als auch systemisch angeboten wird. Um diesem Beratungsanspruch gerecht zu werden, müssen die pädagogischen Landesinstitute für die Begleitung von inklusiven Schulentwicklungsprozessen angemessen ausgestattet werden. Eltern und Schüler*innen sind in diese Prozesse konstruktiv einzubinden. Außerdem sind Beratungsangebote für Eltern und Schüler*innen für inklusive Beschulung auszubauen und sicher zu stellen. Unabdinglich sind des Weiteren barrierefreie Schulgebäude mit einer geeigneten räumlichen Ausstattung und der Möglichkeit, auf barrierefreie und adaptive Lehrmittel zurück zu greifen.
3. Inklusion ist Aufgabe aller Schularten sowie aller an Schule beteiligten Personen.
Eine besondere Zuständigkeit (vorrangige Verantwortung) der Schwerpunktschulen für inklusiven Unterricht lässt sich, insbesondere vor dem Hintergrund eines stagnierenden Ausbaus der Schwerpunktschulen, genau so wenig rechtfertigen wie eine Delegation der Förderung behinderter Kinder und Jugendlicher an Förderschulen oder an Förderschullehrkräfte in Schwerpunktschulen. Zur Gewährleistung einer kommunalen wohnortnahen Verfügbarkeit inklusiver Bildungsangebote sind alle Schulen so zu entwickeln, dass die diskriminierungsfreie Zugänglichkeit für alle Kinder – unabhängig von deren Unterstützungsbedarf – prinzipiell gegeben ist. Das gilt insbesondere für die Schulen der Sekundarstufe I und II. Inklusion ist als gemeinsame und stetige Aufgabe aller an Schule beteiligten Personen zu verstehen. Neben den Lehrkräften sind die pädagogischen Fachkräfte, Schulsozialarbeiter*innen, Schulassistenz/Integrationshilfen, Eltern und Schüler*innen in die Gestaltung der inklusiven Bildungsangebote einzubeziehen.
4. Das Elternwahlrecht kann nur im Rahmen einer Transformation des Schulsystems gewährleistet werden
Das Elternwahlrecht hat keine Grundlage in der UN-Behindertenrechtskonvention. In Rheinland-Pfalz zeigt sich, dass wir ein inklusives Schulsystem als Auftrag aus der UN-Behindertenrechtskonvention durch das Elternwahlrecht nicht erreichen. Damit Eltern, Kinder und Jugendliche (mit Behinderungen) tatsächlich eine Wahl haben, müssen mittelfristig alle allgemeinen Schulen so ausgestattet sein, dass sie ein annehmbares, adaptives und qualitativ hochwertiges Angebot für Kinder/Jugendliche und deren Eltern machen können. Nur so kann verhindert werden, dass das Elternwahlrecht eine weitere Abwanderung von Kindern in das Förderschulsystem hervorbringt. Eine angemessene Ausstattung der Schwerpunktschulen und allgemeinen Schulen kann nicht bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung und Ausbau eines parallelen Förderschulsystems gewährleistet werden. Eine Transformation ist nur mit einer konsequenten Überführung der Förderschulen in ein inklusives Schulsystem möglich.
5. Lehrer*innenaus- und weiterbildung qualitativ verbessern - Lehrende besser vorbereiten und Inklusion an den Schulen begleiten
Inklusion ist eine kooperative Aufgabe aller Lehrkräfte an allen Schularten. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, muss Inklusion als gemeinsamer und verbindlicher Inhalt in allen Lehramtsstudiengängen an allen lehrer*innenbildenden Studienstätten fest verankert werden. Die lehramtsübergreifende kooperative Auseinandersetzung mit inklusionspädagogischen Inhalten ist im Bereich Bildungswissenschaften sowohl im Bachelor als auch im Master auszubauen. Der Aufbau von neuen Studiengängen der Sonderpädagogik sollte von Beginn an als integrierter Studiengang gedacht werden, d.h. als ein innovatives Modell mit einem doppelqualifizierenden Abschluss für das Lehramt an Grundschulen und für sonderpädagogische Förderung. So kann in der Lehrer*innenbildung von Anfang an auf eine Schule für Alle vorbereitet werden.
6. Schulassistenz einfach und unbürokratisch gewähren - gleichwertige Lebensverhältnisse schaffen
Die Zuständigkeit für Schulassistenz (Integrationshilfen) in der Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe mit der zergliederten Kostenträgerschaft bei den Kommunen führt zu hohen bürokratischen Hürden und ungleichen Lebensverhältnissen für die Familien mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen. Hier ist eine einheitliche und hochwertige Leistungserbringung zu gewährleisten und die Koordinierung mit den Schulen erforderlich sowie durch ein gutes Beratungsangebot zu ergänzen. Die inklusive Ausrichtung ist eine Aufgabe, der sich die Träger der Jugendhilfe und der Eingliederungshilfe stellen müssen. Mittel- und langfristig ist die Schulassistenz an den Schulen anzusiedeln.
7. Verfahren inklusiv gestalten - Schulordnung und Schulbaurichtlinie novellieren
Die Sonderschulordnung aus dem Jahr 1984 muss dringend zu einer Inklusionsordnung überarbeitet werden. Die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs soll von unabhängigen Stellen erfolgen und nicht bei den Förderschulen liegen, um systemerhaltende Tendenzen zu verhindern. Ziel muss sein, dass Prozesse und Verfahren wie die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs in individuelle Förderplanungen für alle Schüler*innen überführt werden, um eine Vorfestlegung auf bestimmte Schulabschlüsse sowie stigmatisierende Effekte zu vermeiden.
Auch im derzeitigen zielgleichen Setting sind zusätzliche Raumbedarfe für Schüler*innen mit Behinderungen erforderlich. Deshalb muss die Schulbaurichtlinie – die bereits in Folge der Novellierung des Schulgesetzes in der vorletzten Wahlperiode geändert werden sollte – rasch für die Bedarfe schulischer Inklusion an allen Schulen angepasst werden.
8. Schulentwicklungsplanung auf Inklusion ausrichten - als kommunale, regionale und Landesaufgabe
Bisher spielt bei den Vorgaben für die Schulentwicklungsplanung die Entwicklung eines inklusiven Schulsystems keine Rolle (siehe Leitfaden zur Schulentwicklungsplanung, ADD Trier, 2020). Im Gegenteil, die Standortauswahl von Schwerpunktschulen erfolgt unter dem Aspekt der Ressourcenbündelung und führt zu fatalen Fehlentwicklungen, wie eine aktuelle Analyse zeigt. Inklusive Schulen in Rheinland-Pfalz sind zunehmend durch sozial ungünstige Entwicklungsmilieus geprägt (Marcel Helbig; Sebastian Steinmetz, Zeitschrift für Erziehungswissenschaft ZfE, 11/2021).
Eine Schulentwicklungsplanung, die sich zukünftig auf Inklusion im Sinne einer systemischen Schulreform ausrichtet, braucht entsprechende Kriterien:
• der Entwicklung eines inklusiven Schulsystems im Sinne der UN-BRK muss als verpflichtendes Ziel der Schulentwicklung benannt werden;
• es müssen Indikatoren eines inklusiven Bildungssystems definiert werden, die:
o sowohl Grundlage der Maßnahmenplanung sind
o als auch die Verfügbarkeit und Zugänglichkeit inklusiver, wohnortnaher und hochwertiger schulischer Bildungsangebote absichern und messbar machen.
9. Monitoring inklusiver Schulentwicklung erforderlich
Der Weg zu einem inklusiven Schulsystem ist in Zusammenarbeit mit Schüler*innen, Eltern, Lehrenden, Wissenschaft und Politik gemeinsam zu entwickeln. Erforderlich ist für diesen Prozess ein kontinuierliches und unabhängiges Monitoring, das auf Indikatoren und Kriterien der menschenrechtlichen Verpflichtungen der UN-Behindertenrechtskonvention basiert. Dazu ist ein Expert*innenrat des Landesbeirates zur Teilhabe von Menschen mit Behinderungen unter Einbeziehung des Deutschen Instituts für Menschenrechte zu bilden.
Unser Aufruf - ein inklusives Schulsystem in Rheinland-Pfalz umsetzen!
Als Autor*innen und Unterstützer*innen des Aufrufs fordern wir zu gemeinsamem Handeln von Politik, Verwaltung, Schulen, Verbänden und Wissenschaft unter Beteiligung von Eltern, Schüler*innen und Lehrer*innen in maßgeblicher Verantwortung der Landesregierung auf:
• den Stillstand zu beenden und
• die Transformation in ein inklusives Schulsystem konsequent umzusetzen,
• sowie die abschließenden Empfehlungen des UN-Fachausschuss aus dem Jahr 2015 in Rheinland-Pfalz zu befolgen:
„Der Ausschuss empfiehlt dem Vertragsstaat:
(a) umgehend eine Strategie, einen Aktionsplan, einen Zeitplan und Ziele zu entwickeln, um in allen Bundesländern den Zugang zu einem qualitativ hochwertigen, inklusiven Bildungssystem herzustellen, einschließlich der notwendigen finanziellen und personellen Ressourcen auf allen Ebenen;
(b) im Interesse der Inklusion das segregierte Schulwesen zurück zu bauen, und empfiehlt, dass Regelschulen mit sofortiger Wirkung Kinder mit Behinderungen aufnehmen, sofern dies deren Willensentscheidung ist;
(c) sicherzustellen, dass auf allen Bildungsebenen angemessene Vorkehrungen bereitgestellt werden und auf dem Rechtsweg durchsetzbar und einklagbar sind.
(d) die Schulung aller Lehrkräfte auf dem Gebiet der inklusiven Bildung sowie die erhöhte Zugänglichkeit des schulischen Umfelds, der Materialien und der Lehrpläne und die Bereitstellung von Gebärdensprache in allgemeinen Schulen, einschließlich für Postdoktoranden, sicherzustellen.“ (CRPD/C/DEU/CO/1)
Autor*innen: Prof.in Dr. Anja Hackbarth (Mainz), Dr. Andreas Kuhn (Landau), Matthias Rösch (ehem. Landesbeauftragter für die Belange von Menschen mit Behinderungen Rheinland-Pfalz), Wolfgang Spähn (Gemeinsam Leben – Gemeinsam Lernen, Ludwigshafen).
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